Am 14.11.1998 werde ich um 19.30 Uhr während des ärztlichen Bereitschaftsdienstes zu dem 77-jährigen Herrn Bauer gerufen, er sei „sterbend“. Zunächst spreche ich im Nebenzimmer mit der Schwester, die den Patienten schon länger ambulant betreut und einen erfahrenen Eindruck macht. Sie berichtet mir und den anwesenden Angehörigen: Herr Bauer sei nicht mehr ansprechbar und er habe keinen Puls. mehr>
Er sei schwerkrank und sein bevorstehendes Sterben sei nur gut für den Patienten. Deshalb rate sie, von lebensverlängernden Maßnahmen abzusehen.
Ich gehe in das Krankenzimmer, bei der Untersuchung fällt folgendes auf: Der Patient ist nicht ansprechbar, auch nicht auf lautes Anrufen. Die Augen sind halb geschlossen, er liegt flach im Bett und hat weißlichen Schaum vor dem Mund, der in Fetzen immer wieder heraus geblasen wird. Zyanose. Blutdruck 55 systolisch, Puls sehr schwach, Frequenz nicht eindeutig zu bestimmen. Auskultatorisch über allen Lungenfeldern grobblasige Rasselgeräusche.
Diagnose: Lungenödem.
Bis zum Mittag sei Herr Bauer von der Atmung her noch unauffällig gewesen und er war ansprechbar. Bis vor einer halben Stunde, als die Atemnot begann, sei er stundenlang sehr unruhig gewesen. Die Ehefrau wirkt sehr gefasst, sie weiß um die Ernsthaftigkeit der Situation und befürwortet ebenfalls, wegen der „schweren Vorerkrankungen“ ihren Mann sterben zu lassen. Er habe auch nicht mehr ins Krankenhaus gewollt. Alles dies wirkt zunächst sehr überzeugend.
Ich lagere den Patienten hoch und bespreche die Situation nochmals mit der betreuenden Schwester und den Angehörigen. Außerdem verabreiche ich zwei Globuli des homöopathischen Mittels Arsenicum album* C200.
Ein, zwei Minuten nach der Gabe des Mittels fängt der Patient an, sich zu stabilisieren: Er hat weniger Schaum vor dem Mund und auch offensichtlich weniger Atemnot! Minuten später steigt der Blutdruck auf 80 systolisch, der Puls liegt bei ca. 140/min. Ich entscheide mich für eine zusätzliche Gabe von 60 mg Furosemid intravenös (schulmedizinische Behandlung).
Herr Bauer ist allmählich wieder ansprechbar, wendet mir seinen Kopf auf Ansprache zu und antwortet mit „ja“ oder unverständlichen Worten.
Eine genaue Anamnese ergibt nun folgendes: Herr Bauer ist seit Jahren schon bettlägerig, aber geistig sehr klar. Vor zwei Monaten hatte er eine Oberschenkelhalsfraktur, daraufhin hat er körperlich abgebaut. In den letzten Tagen war er verwirrt, aber dies lag offenbar an einer überhöhten Dosis eines Beruhigungsmittels durch den Hausarzt. Nur im Zusammenhang mit mehreren kurzfristigen Krankenhausaufenthalten und ambulanten Kontrollen der nach der Operation entzündeten Oberschenkelnarbe hatte Herr B. geäußert, nicht mehr ins Krankenhaus zu wollen. Über einen Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen liegt keine Äußerung des Patienten vor.
Ich entscheide mich für die Einweisung ins Krankenhaus. Herr Bauer überlebt.
*Homöopathische Arzneien werden aufgrund der Symptomatik im individuellen Krankheitsfall verschrieben und sind nicht auf andere Krankheitsfälle übertragbar.
Alle Namen im Text wurden geändert.